Grundlagen für faire Beurteilungen

13.11.2023 - Irène Wüest

always do your best-1Beurteilungsverfahren verfolgen das Ziel, Mitarbeitende nach objektiven Kriterien gerecht zu fördern und zu bezahlen. Dieses Ziel ist eine Illusion.
Um dennoch ein hohes Mass an Objektivität zu erreichen, benötigt es Systematik, sachliche Argumentation bzw. Beurteilungskriterien und ein Bewusstsein für Beurteilungsfehler.

Bemüht sich ein Vorgesetzter fair zu beurteilen und erlebt der Mitarbeitende diese Bemühungen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Mitarbeitende Ihre Beurteilung akzeptiert, selbst wenn sein Selbstbild nicht mit Ihrem Fremdbild übereinstimmt.

Hier finden Sie wertvolle Hinweise, wie Sie das gesamte Beurteilungsverfahren möglichst fair und gerecht gestalten können.

 

Systematische Beobachtung

Ein Beurteilungszeitraum von einem Jahr ist lang. Es ist kaum möglich, die Leistungen von Mitarbeitenden über einen so langen Zeitraum hinweg im Gedächtnis zu behalten. Deshalb ist es sinnvoll, wenn sich Vorgesetze in kürzeren Abständen Stichworte für positive und negative Auffälligkeiten zu Mitarbeitenden notieren. Wenn Sie sich an keine Besonderheiten erinnern, machen Sie ein Kreuz in der Spalte «unauffällig».
Überlegen Sie, welches Gesamturteil Ihre Mitarbeitenden heute erhalten würden, und begründen Sie Ihre Bewertung. Mit diesem Raster gelingt das einfach und unkompliziert.

Arbeitsblatt «wöchentliche oder monatliche Beobachtung»

  Positive Leistung Mängel Unauffällig Gesamturteil Begründung
Mitarbeitende 1          
Mitarbeitende 2          
Mitarbeitende 3          
Mitarbeitende 4          
Mitarbeitende 5          

Übrigens:
Wenn Mitarbeitende für Sie unauffällig sind, so kann das entweder daran liegen, dass diese Personen tatsächlich unauffällig arbeiten – also keine besonders positiven Leistungen oder auffälligen Mängel zeigen oder daran, dass Sie zu wenig Kontakt zu ihnen haben. Bei Letzterem besteht die Gefahr, dass Vorgesetzte solche Personen aufgrund mangelnder Beobachtungsmöglichkeiten mittelmässig einstufen – ganz nach dem Motto: «damit kann man nichts falsch machen».

Sachliche Argumentation

Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind zur Erreichung einer Beurteilungspunktzahl erforderlich?

Beurteilende sollten wissen, welche Fähigkeiten und Eigenschaften zur Erreichung einer Beurteilungspunktzahl erforderlich sind. Wenn Fähigkeiten und Eigenschaften nicht konkret beobachtet werden können, wie z.B. Flexibilität, Belastbarkeit, Konfliktverhalten, müssen Beurteilende verdeutlichen, anhand welcher Verhaltensmuster sie erkennen, ob Mitarbeitende über diese Fähigkeiten und Eigenschaften verfügen. Konkrete Beispiele für solche Verhaltensmuster verdeutlichen, dass eine Beurteilung korrekt ist.

Beispiel Beurteilungskriterien mit Verhaltensbeschreibungen

Kriterien Sie / Er

 

Flexibilität / Lern- und Veränderungsbereitschaft

  • ist offen für andere Personen und deren Standpunkte
  • variiert Handlungsstrategien je nach Situation und Anforderung
  • stellt sich neuen Aufgaben und Herausforderungen
  • kann mit Unvorhergesehenem sachgerecht umgehen

 

Belastbarkeit

  • handelt auch in Stresssituationen mit Ruhe und Übersicht
  • lässt sich durch Widerstände und Enttäuschungen nicht entmutigen
  • erreicht auch unter belastenden Umständen (z.B. Zeitdruck, schwankender Arbeitsanfall) und unter seelischem Druck (z.B. schwieriges Kundenklientel, Umgang mit sozialer Not) gesetzte Arbeitsziele
  • bleibt auch bei langwierigen Aufgaben zielgerichtet und beharrlich
  • geht mit den eigenen physischen und psychischen Kräften verantwortungsbewusst um

 

Konfliktverhalten

  • ist sensibel für Spannungen und Konflikte im eigenen Arbeitsumfeld, greift sie frühzeitig auf
  • reagiert in Konfliktsituationen emotional und sachlich angemessen
  • wirkt der Eskalation einer Konfliktsituation entgegen und entwickelt Lösungen
  • hält Konflikte mit anderen aus, weicht Konfliktsituationen nicht unnötig aus
  • respektiert andere Meinungen / Positionen, bezieht sich darauf

Beurteilungsfehler

Vorgesetzte sind Menschen mit Stimmungen, Motiven, Erfahrungen, Geschichten … So werden Beurteilungen durch subjektive Faktoren gefiltert: Wertmassstäbe, Beobachtungsgewohnheiten, Sympathien.

Fehlbeurteilungen werden nicht aus böser Absicht erteilt. Sie entstehen unbewusst und beruhen auf Fehlleistungen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses.

Nicht reflektierte Wertmassstäbe, die mit der zu beurteilenden Leistung nichts zu tun haben, bilden die Grundlage für falsche Beurteilungen. Wenn Beurteilende sich diese Einflussfaktoren bewusst machen, können sie solche Mängel begrenzen.

Hier ein paar typische Beurteilungsfehler:

Der Klebe-Effekt

Eine einmal erfolgte Leistungseinschätzung bleibt an der Person kleben, auch dann, wenn sie sachlich nicht mehr zutreffend ist.

  • Untersuchungen belegen, dass Beförderungen zu einer weiteren Verbesserung von Beurteilungen führen. Wer einmal eine gute Note erreicht, behält diese und wird entsprechend befördert.
  • Dagegen haben es Menschen, die einmal eine schlechte Beurteilung erhalten haben, schwer, ihr Ansehen bei Vorgesetzten zu verbessern.

Hierarchie-Effekt

Beurteilungen fallen umso besser aus, je weiter oben in der Hierarchie die berufliche Position angesiedelt ist. Ursachen hierfür können sein:

  • Menschen gehen davon aus, dass Personen, die bereits viele Stufen der Karriereleiter erklommen haben, besonders leistungsstark sein müssen.
  • Neulinge können nicht so gut sein, wie die alten Hasen.
  • Beurteilungen müssen im Laufe der Zeit kontinuierlich besser werden.
  • Vorgesetzte wollen Mitarbeitende keine bessere Beurteilung zukommen lassen, als sie selbst erhalten.

 Nähe-Effekt

Mitarbeitende erhalten eine umso bessere Beurteilung, je mehr Kontakt sie zu ihrem Vorgesetzten haben. Ein Grund für dieses Phänomen ist, dass viel Kontakt die Möglichkeiten erhöht, die Kooperation zu optimieren.

Halo-Effekt

Hervorragende Einzelleistungen verbessern Beurteilungen dramatisch.

Tendenz zur Mitte

Je weniger Vorgesetzte ihre Mitarbeitenden durch konkrete Beobachtung beurteilen können, desto stärker ist die Tendenz, eine mittelmässige Note zu geben.

Nikolaus-Effekt

Die Leistungen der jüngsten Vergangenheit beeinflussen die Beurteilung am meisten. (Auch der Nikolaus erinnert Kinder nur an Taten, die sich vor Kurzem ereignet haben.)

Kontrast-Effekt

Ein mittelmässig arbeitender Mensch erscheint in einer schlechten Gruppe als hervorragend und in einer Spitzengruppe als schlecht.

Ähnlichkeit

Wir lieben Menschen, die so sind wie wir. Wenn wir an unbekannten Personen Vertrautes wahrnehmen, so neigen wir dazu, ihnen zu vertrauen. Deshalb geben wir solchen Personen, die zum Beispiel genauso schnell sprechen wie wir selbst oder die aus unserer Heimatstadt stammen, einen Sympathiebonus. Um starke Sympathie oder Antipathie gegenüber anderen Menschen trübt unser nüchternes Beurteilungsvermögen.

So können Sie Beurteilungstäuschungen und -verzerrungen reduzieren

Sie reduzieren Beurteilungstäuschungen und -verzerrungen, wenn Sie sich vor dem Schreiben einer Beurteilung Fragen zu Ihren Mitarbeitenden stellen. Sie verdeutlichen sich dadurch, ob Sie gegenüber einer Person negative Vorbehalte oder positive Einstellungen haben, die nichts mit ihren Leistungen zu tun haben.

Welche Arbeitsvorgänge der MA kann ich direkt beobachten? (% der MA-Arbeitszeit?)
Welche Arbeitsvorgänge sind meiner direkten Prüfung zugänglich? (% der MA-Arbeitszeit?)
Welche Tätigkeiten kann ich nicht beobachten? (% der MA-Arbeitszeit?)
Wie häufig (pro Woche) spreche ich persönlich mit der/dem MA?
Wie häufig (pro Woche) telefoniere ich mit der/dem MA?

Worüber spreche ich mit der/dem MA?

- Fachliche Abstimmung
- Arbeitsauftrag
- MA braucht Hilfe
- Lob an MA
- Kritik an MA
- Privates Sonstiges

Wann hatte ich das letzte Mal einen Konflikt mit der/dem MA?
Konnte dieser Konflikt gut erklärt und gelöst werden?
Gibt es ungelöste Probleme?

Auf welche «Tugenden» meiner/s MA lege ich Wert?

- Pünktlichkeit
- Früher Arbeitsbeginn
- Gepflegtes Äusseres
- Ordnung
- Gute Manieren
- Bereitschaft zu Überstunden
- Sonstiges

Verfügt die/der MA über diese Tugenden?
Beeinflussen diese Tugenden die Leistungen der/des MA?

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen! Wenn Sie dazu Unterstützung brauchen, bin ich gerne für Sie da. Hier geht es zu meinem Coaching-Angebot. 

 

Quellen:
Kommunikations- und Serviceportal Uni Hamburg
Blümmert, Gisela (2018). Führungstrainings erfolgreich leiten: der Seminarfahrplan (4. Auflage). Bonn: ManagerSeminare Verlags GmbH

Topics: Coaching, Führung, Kommunikation, Entwicklung, Leadership